Liebe Leserin, lieber Leser,
allerorts feiert man in diesen Wochen den 30. Jahrestag des Mauerfalls mit Konzerten und Ausstellungen, bei offiziellen Empfängen und mit spektakulärem Feuerwerk. Der Aufbau Ost wird gerne als Erfolgsgeschichte verkauft. Aber gleichwertige Lebensverhältnisse, wie sie das Grundgesetz verlangt, sind auch 30 Jahre nach dem Mauerfall noch nicht erreicht.
Mindestens genauso schwer wie die objektive Benachteiligung des Ostens gegenüber dem Westen bei den Themen Rente, Arbeitslosenquote und Wirtschaftswachstum wiegen die persönlichen Ohnmachtserfahrungen während des Umbruchs und das Gefühl des Ausgeliefertseins, als westdeutsche Eliten gefühlt über Nacht das Schicksal von Menschen, Betrieben und Regionen entschieden.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich 2005 in den Osten kam und alle die Augen verdrehten, weil sie dachten: »Bitte nicht schon wieder ein Wessi!« Völlig nachvollziehbar. Jahrelang hatte man den Menschen in Ostdeutschland gesagt, wie sie zu leben, zu denken und zu fühlen haben. Der Westen war der Maßstab und ist heute in puncto Einkommen, Rente und Bildungschancen immer noch die Messlatte.
Was für mich neben der vollständigen Angleichung des Lohn- und Rentenniveaus die entscheidende Frage ist: Wie reden wir über den Osten und über das, was die Menschen in den letzten drei Jahrzehnten geprägt hat? Hören wir auf damit zu bevormunden, und fangen wir endlich an, zuzuhören: auf Augenhöhe und mit ehrlichem Interesse.
Jan Korte ist 1. Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion DIE LINKE