Das gab’s noch nie
Rot-Grün-Rot regiert in Bremen
Eine rot-grün-rote Regierung ist neu für den Stadtstaat Bremen, neu aber auch für den gesamten deutschen Westen. Mitte August 2019 starteten SPD, Grüne und DIE LINKE in ihre Verantwortung. Mit dabei Kristina Vogt, eine der bekanntesten Politikerinnen in Bremen.
Zur Verabredung kommt Kristina Vogt mit ihrem Fahrrad angeradelt. Sie sei immer »öffentlich« in der Stadt unterwegs, erzählt sie. Entweder mit dem Rad oder mit der Bahn. Da kann es allerdings passieren, dass sie schnörkellos von Leuten auf das »eine oder andere Problem« angesprochen wird.
Kristina Vogt habe »einen unglaublich guten Draht zu Menschen«, erzählt Doris Achelwilm, Bundestagsabgeordnete der Fraktion DIE LINKE. Die beiden Frauen kennen sich gut. Aus der Zusammenarbeit in der Bremischen Bürgerschaft aus der Zeit, als die Linksfraktion dort in der Opposition und Kristina Vogt die Fraktionschefin war. Diesen Vorsitz hat sie nun abgegeben. Aus der ehemaligen Oppositionschefin wurde die neue Senatorin für Wirtschaft, Arbeit und Europa. Ein Mammutbereich. Auch einer, in dem für das Land Bremen neue Weichen gestellt werden müssen. Wollte sie diesen Posten? »Ganz klar ja«, sagt sie. Neben Bildung sei die Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik »das Ressort mit den größten Herausforderungen«. Kristina Vogt kennt Bremens Haushaltslage: hoch verschuldet, klamme Kassen, Einhalten der Schuldenbremse. Lösungen gehen darum auch nur gemeinsam, erklärt die 54-Jährige. Im Klartext heißt das, zukünftige Projekte für den Zwei-Städte-Staat sollen ressortübergreifend gedacht, geplant und umgesetzt werden. Ganz weit oben steht für Kristina Vogt beispielsweise der Ausbildungsfonds. Bremen hat zu viele unbesetzte Lehrstellen, etwa 2000. Vor allem im Handwerk fehlen qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber. Dabei gibt es junge Leute, die sich dafür interessieren, die aber den Anforderungen der Berufsschule aus unterschiedlichen Gründen nicht gerecht werden. Jedenfalls nicht in der Regelausbildungszeit. Da nützt auch kein »vorweg gesetztes überbetriebliches Jahr«. Die Erfahrung zeige, so Kristina Vogt, die Jugendlichen lernen anders, wenn sie genau wissen, für welchen Beruf sie die Schulbank drücken. Eine längere Ausbildungszeit würde die Betriebe allein jedoch überfordern. Darum müssen die Jobcenter mit ins Boot, das Bildungsressort, das Arbeitsressort, die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände. So entstand die pragmatische Idee speziell für Bremen: weg von der klassischen Ausbildungsumlage und hin zum »Ausbildungsfonds«.
Bremen ist ein »gespaltenes« Bundesland. Es zerfällt in arme und wohlhabende Stadtteile. Doris Achelwilm beschreibt es so: »Es gibt eben nicht nur das schöne ›Ach-wie-toll-ist-der-Marktplatz‹, sondern eben auch wachsende Armut.« Mit wenig über den Monat zu kommen, das kennt Kristina Vogt. Das musste sie als alleinerziehende Mutter, als junge Frau, die sich im Jobcenter eine Umschulung zur Rechtsanwaltsfachangestellten erstritt. Als Mutter mit Kleinkind sei sie »keine vollwertige Arbeitskraft«, hieß es dort. Sie war von der Agenda 2010 betroffen, sie kennt die nichtdurchlässige Grenze von Hartz IV zum ersten Arbeitsmarkt. Sie weiß, wie mies es sich anfühlt, von monatlich 1.000 Euro brutto auch noch Steuern zahlen zu müssen. Das alles prägte und politisierte sie – bis heute. Politische Entscheidungen bedenkt, beleuchtet und trifft sie immer mit dem Blick auf die Menschen. Was macht das mit ihnen? Welche Rahmenbedingungen braucht es, um arbeiten und davon leben zu können?
Kristina Vogt ahnt, sie wird »keine Wunder« in den nächsten vier Jahren vollbringen. Aber Weichen will sie stellen: für einen in der Perspektive kostenlosen öffentlichen Nahverkehr, nicht nur aus klimapolitischen, sondern besonders aus sozialen Gründen. Für die Arbeitswelt von morgen, in der auch Beschäftigte ohne Studium ihren Platz behalten. Für Alleinerziehende. Dabei setzt sie auf Zuhören und ins Gespräch Kommen. Auf eine faire und offene Kultur im Miteinanderumgehen – sowohl im Senat, in der Bremischen Bürgerschaft als auch mit den Bürgerinnen und Bürgern. Kristina Vogt denkt nicht in vier Jahren, sie denkt unabhängig von ihrer Person und davon, wer im Jahr 2023 regieren sollte. Schön wäre, sagt sie, wenn man nach vier Jahren linker Regierungsbeteiligung sagen kann, »das ist die richtige Richtung, und in zehn Jahren ist das Bundesland gut aufgestellt«.
Gisela Zimmer
Foto oben: Bremen, 15. August 2019: die rot-grün-rote Regierung nach der Vereidigung. Kristina Vogt, die Frau im weißen Hosenanzug, ist die erste linke Senatorin für Wirtschaft und Arbeit in der Hansestadt.
Ab jetzt in Verantwortung
Regierungsverantwortung ist keine Party, kein Wundermittel. Diese Rolle zu übernehmen, bedeutet gerade in einem Land mit Haushaltsnotlage wie Bremen, Risiken und enge Spielräume mit zu übernehmen. Gegen den Spardruck der vergangenen Jahre lassen sich aber auch Verbesserungen durchsetzen, und die sollen an den richtigen Stellen ankommen. Wie viel wir erreichen, hängt von konkreter Arbeit im Politikbetrieb, dem Bewegungsdruck auf der Straße und aktuellen Entwicklungen ab.
Unsere Wählerinnen und Wähler trauen uns mehrheitlich zu, aus dieser Situation das Beste für Bremen und Bremerhaven herauszuholen. Denn statt weiterer Kürzungen, die mit einer »Jamaika-Koalition« zu erwarten gewesen wären, wollen wir den sozial-ökologischen Umbau und gute Arbeitsbedingungen. Wir wollen, dass dieses Bundesland und seine zwei Städte allen gehören, die dort leben. Der rot-grün-rote Koalitionsvertrag schützt in Zeiten des Rechtsrucks verletzliche Gruppen wie Geflüchtete und Obdachlose mit Nachdruck. Auch für (alleinerziehende) Frauen, queere Menschen, Auszubildende, Kulturschaffende, Mieterinnen und Mieter sowie Beschäftigte allgemein haben wir vieles verhandelt, was trotz Schuldenbremse nicht liegenbleiben darf.
Uns treibt das realistische Zutrauen, Hoffen und Wollen unserer Wählerinnen und Wähler, dass es soziale Veränderungen braucht, für die wir als LINKE am stärksten kämpfen.
Bremen: zwei Städte, ein Land
■ Bremen ist einer von drei Stadtstaaten in Deutschland.
■ Der einzige Zwei-Städte-Staat.
■ Bestehend aus Bremen und Bremerhaven.
■ Gründungsdatum 22. Januar 1947.
■ Der Landtag heißt dort Bremische Bürgerschaft.
■ Steht für gewöhnlich ein Ministerpräsident/eine Ministerpräsidentin an der Spitze der Regierung, ist es in Bremen der Präsident des Senats.