Der Herbst 1989! Was war einmalig, was ist 30 Jahre danach geblieben?

Der Grundstein für die Ereignisse vor 30 Jahren, die schließlich zur deutschen Einheit führten, wurde weit früher gelegt. Die mit dem Namen Gorbatschow verbundenen Entwicklungen von Perestrojka und Glasnost in der Sowjetunion, außenpolitisch die zunehmende Verselbstständigung der staatsozialistischen Länder. Das alles machte den Eisernen Vorhang durchlässig. Die Bevölkerung der DDR spürte, dass Gorbatschow und damit die Sowjetunion eher auf ihrer Seite standen. Sie fühlte sich stark genug, für Veränderungen zu demonstrieren und sie auch durchsetzen zu können. Diese Bereitschaft, bisher Unerhörtes einfach zu tun, wie Massendemonstrationen von unten zu organisieren, neue Parteien und Organisationen jenseits der vorhandenen zu gründen, das Machtsystem der SED infrage zu stellen, ohne es gewaltsam beseitigen zu wollen, folgte einem urdemokratischen Impuls. Der täte auch den heutigen Verhältnissen durchaus gut. Zum bewahrenswerten Erbe der Wendezeit zählt auch, dass sich der Umbruch ohne einen einzigen Schuss vollzog, weder durch sowjetische Soldaten noch durch bewaffnete Kräfte der DDR.

Mauerfall und deutsche Einheit hätte es ohne die Gründung etwa des Neuen Forums oder von Demokratie jetzt und dem Demokratischen Aufbruch, ohne die Demonstrationen, die in Plauen und Leipzig ihren Anfang und den Menschen die Angst nahmen und schließlich bei der Demonstration am 4. November 1989 in Berlin ihren Höhepunkt fanden, wohl nicht gegeben.

Für mich war dieser 4. November ein Schlüsselerlebnis, weil ich den Künstlerinnen und Künstlern im Deutschen Theater zuvor empfohlen hatte, doch einfach einen Antrag auf eine legale Demonstration zu stellen. Am Ende nahmen 500.000 Menschen daran teil. Vor diesen unglaublich vielen Menschen hielt ich erstmalig eine politische Kundgebungsrede. Auf den Plakaten und Transparenten war zu erkennen, welche Kreativität mit dieser demokratischen Befreiung verbunden war.

Entscheidend dafür, dass das System regelrecht implodierte, waren der Selbstbefreiungsdrang und das demokratische Selbstvertrauen der Menschen. Sie wollten die Geschicke in die eigenen Hände nehmen. Und es war vor allem die Unfähigkeit der SED-Führung, Demokratie als Chance und nicht als Bedrohung wahrzunehmen. Die Oberen der DDR begriffen nicht, dass einer der vielen Nachteile einer Diktatur das Fehlen des demokratischen Wechsels ist. Einflüsse und Ideen von unten und von außen kamen kaum an die Machtzentrale heran. Dem System fehlte am Ende sowohl die Kraft, bestimmte Dinge zu unterbinden als auch sie zu erlauben.

Der Respekt davor, wie im Osten unseres Landes die vielfältigen sozialen, wirtschaftlichen, persönlichen Brüche der Wendezeit verkraftet wurden, darf sich nicht in Worten erschöpfen. Es geht dabei nicht um Almosen oder Dankbarkeit, sondern um die Gewissheit, dass es ohne den Mut der Ostdeutschen, Machtstrukturen infrage zu stellen, die deutsche Einheit nicht gegeben hätte. Es war, ist und bleibt ein Unding, dass viele Ostdeutsche um die Anerkennung ihrer Berufsabschlüsse ringen mussten und noch heute in Bayern Gesinnungsprüfungen für sie stattfinden. Es ist an der Zeit, bei Löhnen, Renten, Führungspositionen, Wirtschafts- und Wissenschaftsstandorten endlich eine reale und chancengleiche Einheit herzustellen.

Gregor Gysi ist direkt gewählter Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE

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