Kraftvoll, mutig und mit witzigen Losungen ging am 4. November 1989 eine halbe Million Menschen auf die Straße. Ohne die Theaterleute wäre die Demonstration nicht möglich gewesen. Simone Barrientos erinnert sich.

Heute ist es ganz selbstverständlich, dass Kunst- und Kulturschaffende sich politisch einmischen, dass sie mit Leidenschaft einstehen für menschliche Werte, für die Freiheit der Kunst. Dass das in der DDR nicht so war, wissen wir scheinbar. Aber war es wirklich so? Es gab mitnichten nur »staatskonforme« Kunst. Viele Künstlerinnen und Künstler segelten hart am Wind. Der Subtext spielte eine tragende Rolle. Das Austesten von Grenzen, von Grenzüberschreitungen gehörte zum täglichen Brot des Kulturbetriebs.

Und ja, es gab diejenigen, die sich einrichteten, versuchten, nicht anzuecken. Es gab andere, die verließen das Land. Und es gab diejenigen, die die Grenzen ausweiteten, ihre Poesie für Kritik und Visionen nutzten. Dazu gehörte alltäglicher Mut. Denn der zu zahlende Preis war schwer einzuschätzen. Zu unberechenbar agierte die Staatsmacht. Was heute noch ging, konnte morgen schon ein Auftrittsverbot oder Schlimmeres nach sich ziehen.

Und doch wagten Künstlerinnen und Künstler aller Sparten im Herbst 1989 den mächtigen Schritt auf die Straße. »Keine Gewalt«, das war das Motto für die größte Protestdemonstration in der DDR. Organisiert wurde sie maßgeblich von Theatermacherinnen und Theatermachern der Berliner Theater. 500.000 Menschen folgten dem Aufruf und gingen am 4. November 1989 auf die Straße.

Auf der Kundgebung am Alexanderplatz ergriffen viele Prominente das Wort. Nicht alle wurden wohlwollend begrüßt. In den Reden ging es um die »Mühsal des aufrechten Gangs« (Christa Wolf), um einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« (Steffie Spira) und um den Willen, die radikale Erneuerung der DDR-Gesellschaft nicht eher ruhen zu lassen, bis »Sozialismus und Demokratie« zusammengehen (Lothar Bisky).

Diese Reden waren wie ein Konzentrat jenes vielfältigen und bunten Forderungskatalogs, der von Hunderttausenden mit originellen Losungen durch die Straßen der Hauptstadt getragen wurde. Was passierte danach? Drei Tage später trat die Regierung der DDR zurück, am 9. November öffnete sich die Mauer. Ich glaube bis heute, dass diese großartige Demonstration den entscheidenden Stein aus dem bröckelnden Fundament löste.

Übrigens beriet der damals junge Rechtsanwalt Gregor Gysi das Organisationskomitee bei den Vorbereitungen der Protestdemonstration. Mit ihm und anderen Zeitzeugen – wie beispielsweise den Schauspielerinnen Annekathrin Bürger und Jutta Wachowiak, dem Schriftsteller Christoph Hein und dem Kultur- und Literaturwissenschaftler Paul Werner Wagner – werden wir uns 30 Jahre danach erinnern. Im Roten Salon der Volksbühne am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz.

Simone Barrientos

Simone Barrientos ist kulturpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE

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