Teigwaren Riesa ist ein typischer Treuhand-Nachlass in Ostdeutschland. Mit einem neu gegründeten Betriebsrat kämpfen die Mitarbeiter nun für gerechte Löhne.

Riesa steht für das Schicksal vieler mittlerer Städte in der ehemaligen DDR. Heute bestimmen liebevoll sanierte Fassaden das Bild. Straßenbeläge und Bürgersteige wirken wie neu, beinah unbenutzt. In den vergangenen 30 Jahren ist viel passiert. Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung lebten in der Stadt an der Elbe mehr als 50.000 Menschen. Riesa war eine Industriestadt.

Allein das Stahlwerk hatte 13.000 Beschäftigte. Die berühmten Zündwarenwerke belieferten alle Haushalte mit Streichhölzern, von Teigwaren Riesa kamen beinah sämtliche Nudelprodukte auf die Tische der DDR-Haushalte.

Unmittelbar nach der Wiedervereinigung schlossen die meisten Betriebe. Die Treuhand übernahm das Kommando, die Arbeitslosenzahlen schossen in die Höhe. Inzwischen sind in Riesa – trotz zahlreicher Eingemeindungen – weniger als 30.000 Einwohner gemeldet. »Genau genommen«, erklärt Frank Meyer, »hat die Stadt die Hälfte ihrer Bewohner verloren. Geblieben sind vor allem die Älteren.« Frank Meyer ist Vorsitzender des neu gegründeten Betriebsrats bei Teigwaren Riesa. Insgesamt arbeiten in dem Werk 150 Personen. Auch hier zeigt sich zuerst die schöne Fassade: Im historischen Klinkerbau laden ein Nudelmuseum und ein Restaurant in moderne, blau-gelb beleuchtete Räumlichkeiten ein. Das sogenannte Nudelcenter präsentiert Besuchern die schönen Seiten der 100-jährigen Geschichte.

Profit aus dem Treuhand-Nachlass

Doch die Beschäftigten arbeiteten hier zu Niedriglöhnen, teilweise ohne Nacht- und Wochenendzuschläge. Als immer weitere Leistungen gestrichen wurden, merkten die Mitarbeiter, so Frank Meyer: »Es geht bergab und nicht bergauf.« Im Frühjahr 2018 gründete die Belegschaft einen Betriebsrat. »Und das war dann der Anfang von den bösen Zeiten, die wir hatten.«

Ein Blick in die Bilanzen des Unternehmens zeigte zwei Fakten, die »das Fass zum Überlaufen brachten«. Die Beschäftigten in den ostdeutschen Unternehmen der Familie Freidler bekamen durchschnittlich nur zwei Drittel des Gehalts, das ihre Kollegen in den westdeutschen Firmen erhalten, »für die gleiche Arbeit«. Im Einzelfall konnten das bis zu 600 Euro an Lohnunterschied ausmachen. »Dieser Unterschied ist 30 Jahre nach der Wende nicht mehr erklärbar«, so der Vorsitzende des Betriebsrats. Zumal das Riesaer Nudelwerk hoch profitabel arbeitet, wie der Blick in die Bilanzen ebenfalls beweist. Jährlich machte die Besitzerfamilie mit ihrem ostdeutschen Unternehmen Gewinn im siebenstelligen Bereich. Allein im Jahr 2016 kassierte die Familie Freidler einen Gewinn von 6,7 Millionen Euro.

Erfolgreich für gleiche Löhne kämpfen

Niedriglöhne, fehlender Tarifvertrag, kein Betriebsrat – typisch für Unternehmen in Ostdeutschland. Aber auch das: Im Jahr 1993 hatten die aktuellen Besitzer Teigwaren Riesa von der Treuhand übernommen. »Meines Wissens für einen sehr geringen Preis«, schildert Frank Meyer die Unternehmensgeschichte. »In den Folgejahren haben sie hier ganz gutes Geld verdient.« Im Herbst 2018 forderte der neu gewählte Betriebsrat die Besitzer zu Tarifverhandlungen auf. Die Gewerkschaft Nahrung- Genuss-Gaststätten (NGG) unterstützte die Angestellten von Teigwaren Riesa. In den nächsten Monaten folgten mehrere Warnstreiks, bis Familie Freidler im Mai 2019 einen Tarifvertrag unterzeichnen musste. Damit setzten die Mitarbeiter von Teigwaren Riesa ein Zeichen in der gesamten Region. »Während unserer Aktionen haben wir unglaublich viel Solidarität erhalten, nicht nur aus der Lebensmittelbranche«, erzählt Frank Meyer. Die Stahlwerker aus Riesa kamen vorbei, die Mitarbeiter des Reifenherstellers Goodyear Dunlop. Bei ihren Streiks begrüßten die Nudelwerker Gäste aus der gesamten Republik. »Das war emotional extrem wichtig für uns.«

Und wie immer ist es ansteckend, gemeinsam zu kämpfen: In der gesamten ostdeutschen Ernährungswirtschaft kommt es aktuell zu selbstbewussten Forderungen und Warnstreiks. Aus Sachsen meldet die NGG inzwischen erste Erfolge. Auch beim Tiefkühlhersteller Frosta in Lommatzsch, beim Ölwerk Cargill in Riesa und dem Fruchtsafthersteller Sonnländer in Rötha kommt es zu deutlichen Lohnerhöhungen. »Natürlich sind wir noch lange nicht auf Westniveau, aber das sind erste Schritte, um die Lohnlücke zu schließen«, so Frank Meyer.

Malte Daniljuk

Betriebsrat Frank Meyer im Gespräch mit Klar.

Insgesamt fünf Warnstreiks führte die Belegschaft 2018 und 2019 durch, um Verhandlungen über einen Tarifvertrag zu erzwingen.

Mehr Informationen? Die Gewerkschaft NGG Ost veröffentlichte ein Buch über den erfolgreichen Kampf bei Teigwaren Riesa.

Video: Deutschland – einig Vaterland?

Video: Hinter schönen Fassaden: Niedriglöhne

Einheit braucht eine Vereinigung auf Augenhöhe

Respekt darf sich nicht in Worten erschöpfen. Ohne den Mut der Ostdeutschen hätte es die deutsche Einheit nicht gegeben.

Natürlich kann und soll man 30 Jahre Einheit feiern. Schließlich wurde seit der Vereinigung viel geschafft und geschaffen. Die im Herbst 1989 errungenen grundlegenden demokratischen Freiheiten wurden dauerhaft gesichert, auch wenn mancher heute anderes glauben machen will. Innenstädte, Infrastruktur, Kommunikation und Innovationskerne sind in den Landstrichen, die nicht der Entvölkerung und Entindustrialisierung preisgegeben wurden, moderner als in vielen Gegenden des Westens.

Auch die Ostdeutschen haben viel geleistet, als sie sich weder von der Treuhand noch von aus dem Westen kommenden Glücksrittern und DDR-Erklärern beirren ließen, sich in den grundlegend anderen Verhältnissen zurechtzufinden. Wirtschaftsleistung und Produktivität klaffen nicht mehr so weit auseinander wie zuvor.

Doch auch nach 30 Jahren will das Gefühl, in einem vereinigten Land zu leben, nicht so recht aufkommen. Auf Landkartengrafiken zu Vermögen, Arbeitslosigkeit, Arbeitseinkommen, Führungspositionen, Kitabetreuung und vielem anderen scheint es, als ob die Mauer noch stünde, so unterschiedlich sind die Verhältnisse in West und Ost.

Wie das vereinigte Land gestaltet wurde, darauf hatten die Ostdeutschen wenig Einfluss, es wurde in westdeutschen Partei- und Konzernzentralen entschieden. Der Osten sollte nur so werden, wie der Westen des Landes schon war. Das war erkennbar eine Strategie, die nicht funktionieren konnte, weil sie den Osten nicht als Potenzial, sondern lediglich als Anhängsel sah. Denn Einheit braucht Vereinigung auf Augenhöhe.

Diese haben sich viele inzwischen erkämpft, keine Frage. Dass es wie in vielen anderen europäischen Ländern nach der Einheit auch in Deutschland eine gesamtdeutsche Partei links von der Sozialdemokratie mit einem Gewicht des Ostens gibt, gehört dazu und hat Deutschland europäisch normalisiert – im Bundestag, in Landesparlamenten und -regierungen. Ich freue mich, dass es gelungen ist, bundesweite Akzeptanz für DIE LINKE zu erringen und damit soziale Gerechtigkeit stärker in den Fokus der Politik zu rücken.

Doch gesamtgesellschaftlich ist die Augenhöhe eben immer noch nicht hergestellt, was wesentlich auch damit zu tun hat, dass die Bundesregierung bei der Herstellung der Einheit nicht aufhören konnte zu siegen, dass sie nicht bereit war, eine Vereinigung zuzulassen und etwas aus dem Osten zu übernehmen, was auch den Westdeutschen zugutegekommen wäre. Sie hatten kein für sie gewinnendes Vereinigungserlebnis. Sowohl politisch als auch psychologisch und ökonomisch wurden schwerwiegende Fehler begangen.

Sinnbild für diese Entwicklung war die Treuhand, die ursprünglich von der Volkskammer eingesetzt wurde, um die Bevölkerung am DDR-Volkseigentum partizipieren zu lassen. Doch sie wurde neu besetzt und ihr Zweck in sein Gegenteil verkehrt. Betriebe wurden geschlossen oder häufig von westdeutschen Erwerbern als Konkurrenz in die Insolvenz geschickt. Massenarbeitslosigkeit und Deindustrialisierung ganzer Landstriche waren die Folgen, an denen der Osten bis heute leidet.

Diese Entwicklung, die den Ostdeutschen und dem Osten seit 1990 nie das Gefühl von Gleichwertigkeit vermittelte, hat vielleicht mehr zur Herausbildung einer ostdeutschen Identität beigetragen, als es in der DDR je vermocht wurde. Die reale und gefühlte Benachteiligung wurde auch auf die Generationen übertragen, für die die Wende ebenso wie der Mauerfall Ereignisse aus Geschichtsbüchern sind, für die sich Mauer und geteiltes Land fast schon wie Mittelalter anhören.

Dennoch erleben sie in ihren Familien, worauf sich das Gefühl gründet, Deutsche zweiter Klasse zu sein. Dies verschwindet erst dann, wenn es keine konkrete Erfahrung von Benachteiligung mehr gibt. Doch auch heute noch werden Tarifverträge abgeschlossen mit niedrigeren Löhnen und längeren Arbeitszeiten im Osten und keine gleichen Renten für gleiche Lebensleistungen beschieden.

Der Respekt davor, wie im Osten unseres Landes die vielfältigen sozialen, wirtschaftlichen, persönlichen Brüche der Wendezeit verkraftet wurden, darf sich nicht in Worten erschöpfen. Es geht dabei nicht um Almosen oder Dankbarkeit, sondern um die Gewissheit, dass es ohne den Mut der Ostdeutschen, Machtstrukturen infrage zu stellen, die deutsche Einheit nicht gegeben hätte.

Auch deshalb sollte endlich die Lebensleistung der Ostdeutschen gewürdigt werden, auch mit Anerkennung aller östlichen Berufsabschlüsse und endlich mit so vielen Ostdeutschen in Führungspositionen, wie es ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht.

Gregor Gysi ist Mitbegründer der PDS und Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE

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