Abdul Hanan klagt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen Deutschland. Die Bundesregierung blockierte die Aufarbeitung.

Afghanistan, 4. September 2009: Georg Klein, damals Oberst der Bundeswehr, lässt zwei im nordafghanischen Fluss Kundus steckengebliebene Lastkraftwagen angreifen. NATO-Kampfflugzeuge werfen Bomben ab, obgleich sich zahlreiche Menschen aus den umliegenden Dörfern am Ort befinden. Bis zu 140 afghanische Zivilisten verlieren ihr Leben, darunter zahlreiche Kinder. Viele weitere werden verletzt und traumatisiert. Zu den Todesopfern gehören auch die beiden Söhne von Abdul Hanan. Dessen Klage wird nun seit Ende Februar vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg verhandelt, nachdem es in Deutschland den Angehörigen der Opfer nicht gelungen ist, den Fall vor Gericht zu bringen.

Die Bunderegierung tat alles, um die Wahrheit so lange wie möglich zu verbergen. Aus diesem Grund fuhr ich mit meinem damaligen Fraktionskollegen Jan van Aken 2010 nach Kundus. Wir wollten von den Hinterbliebenen der Opfer hören, was passiert war.

Überprüfung vor Ort

Abdul Hanan erzählte mir, dass seine Söhne – wie viele andere auch – nachts zu den Tanklastern gelaufen sind. Aus Neugier und um Benzin abzuzweigen. Kein Wunder, denn die afghanische Bevölkerung ist arm, und Kraftstoff ist teuer.

Niemand dachte daran, dass die Tanklaster ein Angriffsziel für die NATO sein könnten. Denn die Laster hatten sich vom nächsten NATO-Stützpunkt fortbewegt und waren nun manövrierunfähig. Dennoch rechtfertigte Oberst Klein den Angriff später mit der Behauptung, die Lastkraftwagen hätten eine »unmittelbare Gefahr« dargestellt.

Von 2009 bis 2011 saß ich im Untersuchungsausschuss zu Kundus. Dort wurde deutlich, dass Oberst Klein nicht zwischen Aufständischen und Zivilisten unterschieden hatte. Er ignorierte auch mehrere Einsatzregeln der NATO. So verzichtete er auf die vorgeschriebene »Show of Force«, also einen Überflug in niedriger Höhe als Warnung für den bevorstehenden Angriff. Stattdessen ließ Klein die Menschen ohne Vorwarnung bombardieren.

Opfer verleugnen, Täter befördern

Die Bundesregierung tat damals wie heute nichts, um den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es wurde unzureichend ermittelt, und es gibt noch immer keine offizielle Entschuldigung. Den Hinterbliebenen wurde das Recht auf Entschädigungszahlung abgesprochen. Oberst Klein hingegen ist später zum Brigadegeneral befördert worden.

Kürzlich stellte DIE LINKE. im Bundestag der Bundesregierung sechs Fragen zur Aufarbeitung von Kundus. Die Antworten waren erschreckend. An keiner Stelle ließ die Bundesregierung Bedauern über das Geschehene erkennen. Sie behauptete, der Luftangriff auf wehrlose Zivilisten sei »völkerrechtlich zulässig und damit strafrechtlich gerechtfertigt« gewesen, und nannte die Opfer »legitime Ziele im Sinne des humanitären Völkerrechts«. Die Bundesregierung stützt sich dabei auf die Bundesanwaltschaft. Diese hatte im Jahr 2010 zwar Untersuchungen eingeleitet, aber das Verfahren bereits nach wenigen Wochen übereilt abgeschlossen, ohne wichtige Zeugen gehört zu haben. Nun lässt Abdul Hanan, stellvertretend für viele andere Opfer, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klären, ob in Deutschland überhaupt richtig ermittelt worden ist. Dass er überhaupt nach Straßburg gehen muss, ist ein Armutszeugnis für die deutsche Regierung. Es ist höchste Zeit, endlich die Opfer von Kundus anzuerkennen und angemessen zu entschädigen.

Christine Buchholz ist seit 2009 für DIE LINKE. im Verteidigungsausschuss des Bundestags.

Hinterbliebene der Bombenopfer von Kundus empfingen 2010 Abgeordnete der Linke und Grünen. Abbildung ganz oben: Afghanische Polizisten kontrollieren die zerstörten Tanklaster am Ort des Luftangriffs in Kundus.


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Anzahl der Auslandseinsätze
(1992–2018)


423 907

im Ausland eingesetzte Soldaten
(1992–2018)


21.602.300.000 Euro


direkte Kosten der Auslandseinsätze.
Davon Afghanistan, »Resolute Support«
und die drei Vorgängermissionen:

1 1.282.200.000 Euro


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