Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Beate Klarsfeld kämpft seit Jahrzehnten dafür, die Erinnerung an die Verbrechen des Faschismus wachzuhalten und Verantwortung zu übernehmen.
Am 29. Januar wurde im Bundestag eine Ausstellung mit Bildern von David Olère über das KZ Auschwitz eröffnet. Er war der einzige Überlebende eines Sonderkommandos von Auschwitz und malte die Hölle in den Krematorien. Klar sprach am Rande der Ausstellungseröffnung mit Beate Klarsfeld.
Frau Klarsfeld, was haben David Olère und Beate Klarsfeld gemeinsam?
Als ich 1960 nach Paris kam, war mir nicht vorbestimmt, dass ich von nun an mit meinem Mann Serge Nazis in Deutschland und in der Welt aufspüren würde. Ich habe als Deutsche eine Verantwortung übernommen, dafür zu sorgen, dass die Unmenschlichkeit der Faschisten öffentlich wird. Das verbindet uns mit David Olère, den wir 1983 kennenlernten und der uns seinen Nachlass übergab. Wir haben seine Bilder sofort verstanden.
Warum hat es so lange gedauert, diese Bilder zu zeigen?
Niemand wollte diese Bilder sehen. Sie waren zu grausam, die Realität war zu grausam! Niemand wollte sie wahrhaben. Man stelle sich mal vor, der Jude David Olère mit der Häftlingsnummer 106144 musste die Toten aus den Gaskammern holen, ihnen Haare schneiden, Goldzähne ausbrechen und sie ins Krematorium bringen. Er hat gesehen, was in den Gaskammern geschah. Es gibt davon keine Fotos. Er war in der letzten Phase der Ermordung von Juden dabei und er hatte ein unglaubliches Talent, das zu malen.
Viele Zeitzeugen haben lange geschwiegen, weil man ihnen nicht glaubte. Olère hatte ein fotografisches Gedächtnis und sein einzigartiges Genie bestand darin, nicht ästhetisch zu sein. Wenn man mit diesen Bildern konfrontiert wird, wühlen sie auf. Das lässt niemanden kalt. Zum Glück haben sich Gesine Lötzsch und Jan Korte sehr für unser Anliegen beim Ältestenrat des Bundestags eingesetzt. Die Zeit ist erschreckend reif für diese Bilder, weil die braune Gefahr wieder aktuell ist.
Sie haben Ihr Leben lang Nazis aufgespürt. Das war Ihre Mission, hat sie sich erfüllt?
Unsere Arbeit hat viel dazu beigetragen, dass die Deutschen ihre Vergangenheit aufgearbeitet haben. Ich hätte nie gedacht, dass meine Ohrfeige für Kurt Kiesinger, ein deutschen Bundeskanzler mit Nazivergangenheit, weltweit solche Aufmerksamkeit erlangen würde. Es hat aber auch 75 Jahre gedauert, bis ein deutsches Staatsoberhaupt bekannte, es haben Deutsche den Krieg angezettelt, es haben Deutsche verschleppt, gemordet und versucht, Menschen zu entmenschlichen. Es waren nicht nur Hitler und die SS. Deutschland trägt dafür die Verantwortung.
Marc Oler, Enkel von David Olère, sagt, dass weltweit viele Menschen auf Deutschland zählen, wenn es gilt, Anstrengungen auszubauen, um Rechtsextremismus und Antisemitismus zu ahnden. Ist seine Hoffnung berechtigt?
Ich denke, ein großes Stück Arbeit liegt noch vor uns. Man muss sich engagieren, sofort. Man muss den jungen Leuten sagen, die zum Glück keinen Krieg erlebt haben, denen es heute vergleichsweise gut geht, engagiert euch. Wir haben Europa, Deutschland hat eine starke Demokratie. Das dürft ihr jungen Leute nicht vergessen. Ihr wisst nicht mehr, welche Gefahr es ist, wenn man Rechtspopulisten an die Macht kommen lässt. Ich weiß nicht, ob ihr die Kraft habt, die wir in den 1968er Jahren hatten. Aber ich hoffe darauf. Ihr dürft nicht warten, wenn ihr in einem friedlichen Europa leben wollt. Serge und ich sind beide über 80, aber wir hören nicht auf. Wir werden weitermachen und wir brauchen die Unterstützung der Jugend.
Nur eine Woche nach Ausstellungseröffnung wurde ein FDP-Politiker mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt.
Ja, die Demokratie ist in Gefahr. Im ersten Bundestag saßen 1949 noch über hundert Nazis, die früher Mitglied der NSDAP waren. Heute haben wir im Bundestag und in allen Landtagen die AfD. Serge und ich haben uns im Europawahlkampf stark engagiert. Wir haben gefordert, dass alle demokratischen Parteien gemeinsam gegen Rechtspopulisten kämpfen, die sich überall in Europa breitmachen. Demokratische Parteien schützen vor Antisemitismus und Judenhass. Wenn die AfD an die Macht kommt, wird der Antisemitismus noch viel stärker. Nur durch Zusammenhalt aller demokratischen Parteien können wir ein friedliches Europa bewahren.
Der 8. Mai, der Tag der Befreiung, wird in diesemJahr ein Feiertag sein. Welche Botschaft haben Sie für diesen Tag?
Es ist gut, dass es diesen Feiertag gibt. Die Botschaft von damals lautete: Nie wieder Krieg. Sie ist immer noch aktuell. Solange wir noch können, werden wir gegen Krieg und Rechtsextremisten kämpfen. Die jungen Leute müssen wissen, dass die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs immer wieder passieren können, in anderer Form. Faschismus und Krieg können wieder passieren, wenn man nichts tut. Die jungen Leute müssen begreifen, dass es nicht reicht, sich Fotos vom Krieg und von Auschwitz anzusehen. Man muss sich dagegen engagieren.
Interview: Marion Heinrich
Erinnern reicht nicht!
Die Befreiung der Welt vom Faschismus ist für mich das wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts. Das ist jetzt 75 Jahre her. Doch immer noch ist Faschismus nicht etwas Vergangenes. Er ist wieder Alltag in Deutschland und in Europa. Wieder werden die gleichen Hetzreden gehalten, wieder werden Menschen gedemütigt, geschlagen und sogar ermordet. Was haben wir falsch gemacht? Warum haben die Bücher, Filme und Gedenkstätten die Menschen nicht gegen den Faschismus immunisiert? Bildung allein reicht nicht!
Wenn heute in der offiziellen Geschichtsschreibung von den zwei Diktaturen gesprochen wird, dann wollen die Herrschenden vor allem von dem engen Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus ablenken. Gerade die Corona-Krise zeigt, wie gefährlich die Vergötterung des Marktes ist. Die Bundesregierungen haben in den vergangenen Jahren die soziale Infrastruktur unserer Gesellschaft zerbröseln lassen. Jetzt fehlen in den Krankenhäusern lebenswichtige Dinge wie Atemschutzmasken. Das ist Ergebnis einer Gesundheitspolitik, die auf Profit ausgerichtet ist. Das ist lebensgefährlich!
Das Erstarken des Faschismus in der ganzen Welt hat auch etwas mit der dramatischen Umverteilung des Reichtums von unten nach oben zu tun. Nur wenn wir die Gesellschaft grundlegend ändern, können wir den Faschismus für immer beseitigen. Denn der Faschismus findet seinen Nährboden in dieser kapitalistischen Gesellschaft.
Wiedersehen: Bücher und Filme über den antifaschistischen Widerstand
Regina Scheer
Im Schatten der Sterne
Eine jüdische Widerstandsgruppe
Aufbau Verlag, Berlin 2004
Theun de Vries/Ben Verbong
Das Mädchen mit dem roten Haar
Niederlande, 1981
Bruno Apitz/Philipp Kadelbach
Nackt unter Wölfen
UFA Fiction, Berlin, 2015
Chaika Grossmann
Die Untergrundarmee
Der jüdische Widerstand in Bialystok
Fischer, 1993
Joram Lürsen
Der Bankier des Widerstands
Dutch FilmWorks, Niederlande, 2018
Hans Fallada
Jeder stirbt für sich allein
Aufbau Taschenbuch, Berlin, 2012
Edward Zwick
Unbeugsam – Defiance
Für meine Brüder, die niemals aufgaben
Paramount Vantage, USA 2008