Nicht überall finden Familien eine angemessene Betreuung bei einer Schwangerschaft. Es fehlt an Stationen, Betten und Hebammen.
Die Wehen setzen vor dem errechneten Termin ein, doch zwischen dem Wohnort und der nächsten Geburtsstation liegt die Nordsee. Auf Sylt gibt es weder Kreißsaal noch Geburtshaus. Bekommen hat die Inselbewohnerin ihr Kind während der Überfahrt – Anfang April auf dem Seenotrettungskreuzer „Pidder Lüng“.
Was das Kind später sicherlich oft als aufregende Anekdote erzählt bekommt und vielleicht auch selbst als das erste erlebte Abenteuer weitergeben wird, ist gleichzeitig eine symbolträchtige Erzählung über die dramatische Situation in der Geburtshilfe. Denn dass am alles Ende gut ging, ist der Besatzung und einer Hebamme an Bord zu verdanken, und dem Glück, dass es keine schweren Komplikationen gab. Glück sollte für eine sichere Geburt aber ein möglichst kleiner Faktor sein. Schwangere sollten überall – auf den Inseln, in Städten und in ländlichen Regionen – die Gewissheit haben, dass es eine gute Versorgung gibt, dass Geburtsstationen schnell erreichbar sind, dass sich Hebammen und andere Fachkräfte gut kümmern können.
Aktuell gibt es die Gewissheit, dass in vielen Regionen nichts davon wirklich abgesichert ist. Eine Karte des Deutschen Hebammenverbands illustriert die Unterversorgung mit Hebammen bundesweit. Es geht nicht nur um die Geburt selbst, sondern um die komplette Palette der Hebammenversorgung von Vorsorge und Geburtsvorbereitungskursen über verschiedene geburtshilfliche Versorgungsformen bis hin zur Wochenbettbetreuung und Nachsorge.
In den letzten 20 Jahren sind ein Drittel der Frauen- und Geburtshilfestationen dichtgemacht worden, es steht nur noch die Hälfte der Betten zur Verfügung. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE hervor. Dass immer mehr Kreißsäle schließen, hängt mit der Art der Finanzierung der Krankenhäuser zusammen. Die Krankenhäuser bekommen nicht die Kosten erstattet, die eine Geburt verursacht.
Sie bekommen für jede Geburt grundsätzlich dieselbe Pauschale. Führt ein Krankenhaus viele Geburten durch, macht es Gewinn, weil die Kosten pro Geburt sinken. Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Kreißsäle lohnen sich nicht, wenn nur wenige Geburten durchgeführt werden. Ob Stationen schließen, wie beispielsweise auf Sylt, wird nicht mit Blick auf den Bedarf entschieden. Ökonomische Kriterien spielen die zentrale Rolle.
Hebammen müssen im Durchschnitt zwei Geburten pro Schicht und drei Frauen gleichzeitig betreuen. Ein Drittel der befragten Kliniken gab an, 2018 mindestens eine Schwangere mit Wehen wegen fehlender Kapazitäten abgewiesen zu haben. Das stellt eine vom Gesundheitsministerium (BMG) in Auftrag gegebene und im Januar 2020 veröffentlichte Studie zur Situation der stationären Geburtshilfe fest. Und: Die schlechten Arbeitsbedingungen werden den Personalmangel weiter verschärfen, wenn nicht endlich umgesteuert wird. Gut 40 Prozent der Befragten haben laut eigener Angabe oft oder sehr oft darüber nachgedacht, Arbeitszeit zu reduzieren. Mehr als ein Viertel hat über den Berufsausstieg nachgedacht.
Die Ergebnisse der Studie decken sich mit den Schilderungen von Anke Bertram, Vorsitzende des Hebammenverbands Schleswig-Holstein. Ihre Prognose: Die Hebammen hielten ähnlich wie die Pflegekräfte gerade eben nur noch durch bis zum Ende der Corona-Pandemie. Danach fürchtet sie eine Berufsflucht: „Die Hebammen schleppen sich zum Dienst, sie stehen kurz vorm Burn-out, aber sie geben trotzdem immer ihr Bestes, weil die Frauen ja versorgt werden müssen.“ Nicht nur wer selbst einmal kurz vorm Burn-out stand, kann sich vorstellen, dass das nicht lange gut gehen kann.
Die Gesundheit der Hebammen nimmt Schaden. Die Versorgung leidet. Durch einzelnes Engagement von Hebammen kann nicht wettgemacht werden, was strukturell schiefläuft. Die medizinische Leitlinie für vaginale Geburten empfiehlt beispielsweise eine Eins-zu-eins-Betreuung durch Hebammen und sagt: „Die Betreuung durch ein und dieselbe Hebamme soll entsprechend den Bedürfnissen der Frau so kontinuierlich wie möglich erfolgen.“ Im Kreißsaalalltag ist das aufgrund des Personalmangels aber schlicht nicht möglich. Und dabei geht es nicht nur um die Hebammen selbst. Weil auch in anderen Bereichen ein unheimlicher Druck auf dem Personal lastet, müssen Hebammen immer öfter neben ihren eigentlichen Aufgaben fachfremde Tätigkeiten wie Reinigungsarbeiten übernehmen. Auf der Strecke bleibt das, was für emotionale Arbeit, für Interaktion mit Menschen in verletzlichen Situationen so wichtig ist: Ruhe. Mehr als jede zweite befragte Hebamme sagt laut Studie des BMG, dass sie zu wenig Zeit für eine adäquate Betreuung hat.
Der Teufelskreis aus dem sich weiter verschärfenden Personalmangel kann nur durchbrochen werden, wenn sich grundlegend etwas ändert, und zwar nicht nur in den Kliniken, sondern in der gesamten Geburtshilfe. Was wichtig für eine gute Versorgung ist, liegt auf der Hand: Wohnortnahe Infrastruktur und eine Eins-zu-eins-Betreuung. Dafür braucht es zum einen die Absicherung der außerklinischen Infrastruktur und eine angemessene Vergütung der freiberuflichen Hebammen. Zum anderen braucht es eine bedarfsgerechte Personalbemessung für alle Berufsgruppen im Krankenhaus, hebammengeleitete Kreißsäle und eine bedarfsgerechte Vergütung der Geburtshilfe.
Cornelia Möhring ist frauenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag.