Die Buchhandelskette verlässt die Tarifbindung und kündigt dem Vorsitzenden des Betriebsrats.

Thomas Sielemann ist Buchhändler. Ich treffe den 58-jährigen Wahlspandauer in Berlin-Kreuzberg. Sielemann kennt hier jede Ecke, er wohnt seit bald 40 Jahren in Berlin. Er hat die politisch bewegten 1980er Jahre in Westberlin erlebt, sich unter anderem in der Geflüchtetenhilfe engagiert. Nachdem Sielemann sein Politikstudium an der Freien Universität Berlin ohne Abschluss beendet hatte, arbeitete er in verschiedenen Jobs. Schließlich entschied er sich für die Arbeit als Buchhändler. „Das haben früher einige gemacht“, sagt er mit einem Augenzwinkern. „Wenn du dein Studium abgebrochen hast, bist du eben Buchhändler geworden.“ Seit fast 30 Jahren arbeitet Sielemann bei der Buchhandelskette Thalia und ist dort mit kurzer Unterbrechung Vorsitzender des Betriebsrats.

Doch Sielemanns berufliche Zukunft ist ungewiss. Sein Arbeitgeber hat ihm eine betriebsbedingte Kündigung ausgesprochen. Die Klage auf Kündigungsschutz läuft noch, auch mithilfe der Gewerkschaft. Eine Güteverhandlung verlief Anfang Mai ergebnislos, Sielemanns Hauptverhandlung ist für Mitte August angesetzt.

Der Grund für den Ärger ist, dass der Buchhandelskonzern Thalia Anfang des Jahres überraschend angekündigt hatte, die Berliner Filialen in eine bereits im Jahr 2015 gegründete Thalia Nord GmbH zu überführen. Die bisherige GmbH bleibt als leere Unternehmenshülle zurück. Die Filiale in Spandau gehört nicht zum neuen Unternehmen, sondern ist nun eine eigene GmbH außerhalb von Thalia. Sielemann wurde dieser Filiale zugeordnet, der Rest des Betriebsrats der Thalia Nord. Zudem hatte Thalia verkündet, in die sogenannte OT-Mitgliedschaft beim Handelsarbeitgeberverband HDE zu wechseln. „OT“ steht für „ohne Tarifbindung“, das heißt: Thalia steigt aus dem Tarifvertrag des Einzelhandels aus.

Die Ungewissheit ist anstrengend. Er war im April krankgeschrieben und lebt jetzt in einer rechtlich unsicheren Situation. „Mir geht’s derzeit nicht so gut“, sagt er. „Fast 30 Jahre arbeite ich bei Thalia. Wenn alles auf einmal infrage steht, ist das schon heftig.“ Mit Wertschätzung seitens des Unternehmens habe das nichts zu tun. Sielemann will seine Arbeit als freigestellter Betriebsratschef wieder aufnehmen, aber in welchem Betrieb eigentlich?

Nachdem Sielemann dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf die ausgegliederte Spandauer GmbH widersprochen hatte, erfolgte prompt die betriebsbedingte Kündigung, da es in der übrig gebliebenen GmbH-Hülle Thalia Berlin keine Filialen mehr gebe und deswegen auch keine Arbeit mehr für ihn. Gegen die vom Arbeitgeber vorgenommene Zuordnung zur Spandauer Filiale klagt Sielemann derzeit vor dem Arbeitsgericht.

Das Unternehmen hat mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Der langjährige und unbequeme Betriebsratsvorsitzende ist weg, der Tarifvertrag des Einzelhandels gilt nicht mehr, und letztlich hat Thalia dem Branchenverband HDE noch einen großen Gefallen getan: Sielemann ist seit 15 Jahren auch Mitglied der ver.di-Tarifkommission für den Berlin-Brandenburger Einzelhandel und derzeit deren Vorsitzender. Durch die Kündigung droht ver.di kurz vor Beginn der Handelstarifrunde im Juli einen wichtigen und erfahrenen Kopf zu verlieren.

Anders gesagt: Wir sehen hier einen besonders dreisten Fall von Tarifflucht und „Union Busting“, wie die Ver- oder Behinderung von Gewerkschafts- und Betriebsratsarbeit in den USA genannt wird. Alles im Rahmen geltenden Rechts.

„Thalia verfolgt mehrere Ziele“, meint Sielemann. „Einerseits haben sie Schwierigkeiten, ihren Umsatz weiter zu steigern. Irgendwann ist das Geschäftsmodell ausgereizt und jede weitere Steigerung der Lohnstückkosten, jede Tariferhöhung geht zulasten des Gewinns.“ Andererseits wolle Thalia nicht mehr, dass jemand „von außen“ reinrede, der sich nicht auskenne im Unternehmen. Aber wer ist die Gewerkschaft, wenn nicht die Beschäftigten im Betrieb, die sich organisieren? Sielemann kennt sich im Unternehmen aus wie kaum ein anderer.

„Und das Dritte ist: Thalia hat es ausgenutzt, dass wir uns wegen der Pandemie derzeit nicht organisieren können. Beim Gütetermin waren rund 50 Kolleginnen und Kollegen, aber das war die Grenze des derzeit Möglichen“, sagt Sielemann. Betriebsversammlungen, Gewerkschaftskundgebungen, mobilisierende Reden im Betrieb, direkte Ansprache der Kollegen – das alles geht derzeit nicht.

Mitte August wird das Arbeitsgericht über die Kündigungsschutzklage entscheiden. Thomas Sielemann denkt über seine Zukunft nach. Des Kämpfens müde ist er nicht, aber „vielleicht ist es an der Zeit, nach den vielen Jahren darüber nachzudenken, was ich sonst noch machen könnte, was mir Spaß macht und wo ich mich mit meinen Fähigkeiten und Erfahrungen aus langjähriger Betriebsratsarbeit einbringen kann“, sagt Thomas Sielemann. Jörg Meyer

Thomas Sielemann, entlassen nach 30 Jahren bei Thalia

Betriebliche Vertretung stärken

„Das Beispiel Thalia zeigt, wie dreist manche Unternehmen vorgehen, um sich der Bindung an einen Tarifvertrag zu entziehen“, sagt Pascal Meiser. Diese Unternehmen verschaffen sich auf dem Rücken ihrer Beschäftigten unfaire Wettbewerbsvorteile, so der gewerkschaftspolitische Sprecher der Fraktion DIE LINKE. Meiser ist überzeugt, dass die Tarifbindung in Deutschland wieder erhöht werden muss. Dazu müssten nicht nur die Gewerkschaften gestärkt werden. Auch die Bundesregierung sei gefragt. DIE LINKE hat konkrete Vorschläge vorgelegt: Bei der Aufspaltung eines Unternehmens muss sichergestellt werden, dass die bisherigen Tarifverträge kollektiv weitergelten. Unternehmen, die Mitglied eines Arbeitgeberverbands sind, sollen verpflichtend auch an deren Tarifverträge gebunden sein. Tarifverträge sollen leichter für allgemeinverbindlich erklärt und so auf alle Unternehmen einer Branche ausgedehnt werden können. „Und es muss endlich Schluss damit sein, dass mit Steuergeld Lohndumping betrieben wird“, fordert Meiser. Öffentliche Aufträge dürfen künftig nur noch an Unternehmen vergeben werden, die nach Tarif bezahlen.

Thomas Klaeber Kolkwitz

Pascal Meiser ist Sprecher für Gewerkschaftspolitik der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag.

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