Gregor Gysi bewirbt sich noch einmal um ein Bundestagsmandat.

Mitunter sind es die Kleinigkeiten. Auf Veranstaltungen besteht Gregor Gysi darauf, dass der Saal hell, das Publikum erkennbar bleibt. Denn auch wenn er monologisiert: Er will nicht vor, sondern mit den Leuten sprechen. Frei nach dem Warngedicht des Lyrikers Kurt Bartsch:

„Als der Redner ankündigte / er rede zur Sache, / fragten sich viele: / Warum nicht zu uns?“

Er hat, nunmehr dreiundsiebzigjährig, seine Autobiografie mit den Worten beendet: „Ich bin wild entschlossen, das Alter zu genießen.“ Listigerweise setzt er im Gespräch hinzu, er wisse nur noch nicht, wann es beginne. So wirkt sein Entschluss, nach einem Langleben als Partei- und Fraktionsvorsitzender den Posten des außenpolitischen Sprechers der Linken im Bundestag zu übernehmen, wie eine Entscheidung im Vorfeld – jenes besagten und hinausgeschobenen Alters. Und noch einmal tritt er an fürs Parlament, im Wahlkreis Treptow-Köpenick. „Sein“ Wahlbezirk. Das Personalpronomen erzählt die lange Geschichte erfolgreicher Kämpfe ums Direktmandat.

Gregor Gysi ist mit vielen Fasern Partei und wirkt doch auch, als habe er Partei – als ein so bindendes wie fesselndes biografisches Strukturelement – lang schon hinter sich. Anders gesagt: Er stellt sich in Dienst – und bleibt frei. Er vertritt mit Energie Interessen – und bleibt dabei er selbst. Als er noch die PDS führte, sagte sein Brandenburger Freund und Genosse Michael Schumann, er verhalte sich nicht wie ein Parteivorsitzender (Gysi merkte erschrocken auf), sondern wie ein Anwalt. Verweis auf die Gabe, in Menschen Mandanten zu sehen, sie als verteidigenswert zu betrachten. So gepolt, entwickelt man auch Neugier, den politischen Gegner zu verstehen. Aber Verständnis dämpft nicht etwa den Streit, den Konflikt, die Ablehnung, sondern adelt die unabdingbare Auseinandersetzung. Indem sie frei bleibt von Feindbildern. Das ist Mut und Anmut.

Dichter Stephan Hermlin reizte in der DDR mit der Selbstkennung, er sei ein „spätbürgerlicher Schriftsteller“. Wenn man Gysis europaweit verzweigten Stammbaum zwischen Adel, Bürgern und Kommunisten besieht, so findet man im Gebaren des Nachfahren ebenfalls eine Feier zeitresistenter Spurenelemente. Weil Leben vor allem Weitergabe bleibt. Linkssein war für Gysi deshalb nie ein Mittel, sich mit Rauschzuständen ideologischer Feindlichkeit zu versorgen. Dass ihn eine Berliner Ausstellung zur Oktoberrevolution mit der Hoffnung zitierte, es möge das nächste Mal besser klappen – es war ein Bonmot des Leichtgeistes, dem die Pointe gern vor Präzision geht. Gysi ist der Prototyp des Politikers nach den Revolutionen, mehr noch: statt der Revolutionen. Wenn man darunter die Not der Gewalt versteht. Gysi ist Demokrat, aber nicht in verschwommen allgemeiner, sondern in klar konturierter Weise: Er ist demokratischer Sozialist. Wissend freilich: Der Mensch will nicht dauernd in Richtung Zukunft gezogen, erzogen werden, er „will ohne Aufschub und Ferne in sein volles Leben“ (Ernst Bloch).

Die Außenpolitik ist Gysis Feld, weil sich in ihr in besonderem Maße linke Identität festmacht. Prinzipieller Abrüstungswille gegen bundesdeutsche -NATO-Beteiligungspraxis. Gysi in seinem Element: Arbeit am Kompromiss, ohne den Charakter zu verlieren; Realismus.Gysi reißt mit, und noch dort, wo er Widerspruch auslöst, geschieht es auf dem Niveau von Kultur und Respekt. Er wurde zwischen Bundestagssitzungen, Kanzleitätigkeit, Wahlkreisarbeit und eigenen Moderationen zum logistischen Jongleur. Er ist Ostdeutscher, aber er denkt viel zu intelligent, um vordergründig polemisch ins Partikulare abzugleiten. Doch wagt er just aus Souveränität heraus Differenzierungen, die ihm auch im Westen Beifall bescheren. Weil der in keinem Fall mit ostalgischer Verklärungstaktik erkauft wird. Gysi will das staatssozialistische System nicht etwa zurück, aber er besteht auf der Wahrheit, dass dessen Geschichte durchaus reich an alternativen Denkmustern und sozialen Produktionsformen war; dieses System schuf eine andere Form der Kultur, es war durch harsche Züge des ideologischen Konformismus genauso geprägt wie durch klassische Bildung und soziale, bildungspolitische, ästhetische Experimente. DDR, das bedeutete zerstörerische Einfalt der Macht, aber große Vielfalt des Lebens!

Gysis Leben ist kraftvolle Bestätigung eines Lebens in Demokratie und Freiheit – bei gleichzeitigem Widerspruch eines Ostdeutschen gegen eine nicht hinnehmbare Repräsentationslücke innerhalb unseres politischen Systems. Aus ihm spricht und erzählt ein äußerst Erfolgreicher, aber nie entfernt sich seine Lebenskunst von der Überzeugung, dass Deutschland immer auch aus der Perspektive der vermeintlich Gescheiterten und Verlierer erzählt werden muss – nicht mit einer Geste des Erbarmens, sondern weil diese Geschichte uns auf den weiteren Wegen bereichert.

“Wer die deutsche Einheit haben will, muss sich auch mit mir abfinden.”

Gregor Gysi

Dies genau ist der Kern seiner Auftritte: Den Auftrag, eine Gesellschaft zu verändern, teilen sich in der Demokratie viele Geisteswelten. Die bürgerliche Ordnung als ein Entdeckungsverfahren für vorteilhafte Investitionen. Was nun aber vorteilhaft sei und welche soziale Investitionen wahrlich Zukunft hätten – dies ist gesellschaftlich hart zu diskutieren. Da bleibt der Linke Gysi stets sehr kenntlich. Zündend, zornig, zäh.

So steht er auch gegen die Reptilisierung des parlamentarischen Gebarens: im Plenum so zahlreiche Schutzpanzer, so elende Echsengeduld beim Desinteresse, so variantenreiche Lauerstellungen im trüben Wasser der Selbstgewissheit und Fraktionskumpaneien. So viele, die ihr Leben der faden Gesundheit des unangreifbaren Standpunktes opfern. Gysi, so hat es Roger Willemsen mal beschrieben, „ist der Typus jenes Parlamentariers, der das Richtige immer wieder vergeblich gesagt hat. Das hat seine Intelligenz geschärft, nicht beschädigt. Aber dies Vergebliche liegt auf dem, was er sagt, wie ein Film“.

Man könnte sagen: Er ist eine historische Gestalt. Jüngster Anwalt der DDR, Verteidiger von Oppositionellen, als Protagonist des SED-Wechsels in die Erneuerung und in den Westen wie kein anderer bespien – und gefeiert. Er bekam nie das Bundesverdienstkreuz, aber die Verletzungen und Verächtlichmachungen, die er durchstand, rechtfertigten allemal ein Wundenverdienstkreuz. Er ist in allen gesellschaftlichen und innerparteilichen Wechselfällen quirlig und zäh, eloquent und heiter geblieben. „Wer die deutsche Einheit haben will, muss sich auch mit mir abfinden“, sagte er vor Jahrzehnten. Viele haben sich abgefunden. Andere blieben unversöhnt. Ein Unzugehöriger ist Gysi aber längst nicht mehr. Er habe gegen so viel Ausgrenzung anleben müssen, dass es ihm durchaus „Freude bereiten“ würde, an Koalitionsverhandlungen seiner Partei auf Bundesebene teilzunehmen. Fast ein wenig diabolisch kann dieser Gregor Gysi lächeln.

Hans-Dieter Schütt

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